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Seminar-Blog

In loser Reihenfolge wollen wir Einblicke nicht nur ins Seminar-Leben, sondern auch in andere Institutionen der Bildungslandschaft geben. Dabei werden unterschiedlichste Stimmen gehört und verschiedenste Standpunkte eingenommen.

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Blog-Eintrag Nummer 8, 25.11.2024

Fünf erstaunliche Dinge über mich
Ein Blogbeitrag von Björn Schumacher
 
Ich bin gerne Geschichtslehrer. Ich mag Geschichten, und deshalb bin ich ja zugleich auch Deutschlehrer. Nun bringt es meine Seminartätigkeit mit sich, dass mein zweites Fach in den zurückliegenden 13 Jahren ruhen musste. Die Umstände haben jetzt dazu geführt, dass ich in diesem Schuljahr meinem alten Fach wiederbegegnen durfte.

Dass beide Fächer sich wunderbar ergänzen, wusste schon Günter Grass. Sein Roman Örtlich betäubt aus dem Jahr 1969 handelt von einem „Studienrat für Deutsch und also Geschichte“. In der Unterrichtspraxis unterscheiden sich die beiden Verwandten aber in einem signifikanten Punkt: In Geschichte verkeilt sich auf der Beziehungsebene zwischen Lehrer und Schüler mitunter der Inhalt, der für viele Lernende sperrig und weit weg von ihrer Lebenswelt und ihren Interessen zu sein scheint. In ihrem Alltag treiben sie eben andere Dinge um als etwa die Frage, warum ein komischer Kaiser vor bald tausend Jahren mit irgendeinem Papst Stress bekam und deshalb angeblich drei Tage lang barfuß im Schnee um ihn herumscharwenzelte und dabei immer wieder an seine Tür klopfte, damit dieser ihn vom Bann freispreche. Ja, geht’s noch? Es bedarf schon eines gewissen didaktischen Arrangements, bevor manche Themen über den Ladentisch gehen. Aus Schülersicht sollten sie zumindest unterhaltsam sein, aus Lehrersicht nach Möglichkeit gegenwartsrelevant, und irgendwann im Verlauf der Stunde erwarten wir von unseren Schülern, dass sie sich positionieren, begründet Stellung beziehen, urteilen, wie sie das alles finden und wie sie an dieser oder jener Stelle selbst gehandelt hätten. Sogar bei brandaktuellen Themen fällt dies nicht immer leicht: Was braucht es nicht alles an Voraussetzungen, um wenigstens ansatzweise kompetent beim Nahost-Konflikt mitreden zu können?

In Deutsch habe ich in der Mittelstufe dagegen jüngst die Erfahrung gemacht, dass ich oft ganz unversehens und ohne viel eigenes Zutun in die Lebenswelt meiner Schüler hineingleite. Es vergeht kaum eine Stunde, in der sie nicht etwas Wesentliches über sich preisgäben. In einem Jugendroman, den ich derzeit mit ihnen lese, listet ein grübelnder jugendlicher Protagonist Eigenschaften über sich auf, die er für besonders charakteristisch oder bemerkenswert hält. Daraufhin habe ich meine Schüler gebeten, sie möchten es ihm gleichtun und ihrerseits auf einem Zettel in kurzen Sätzen „fünf erstaunliche Dinge“ über sich selbst festhalten. Dabei kamen tatsächlich erstaunliche Dinge zu Tage, wie ich am nächsten Morgen feststellen konnte, als ich die Zettel in der Absicht einsammelte, um sie auszugsweise der Klasse vorzulesen. Ich wollte die Schüler raten lassen, wer wohl jeweils der Autor der Sätze gewesen sein könnte. Wie gut würden sich die Schüler gegenseitig kennen? Ich war mir sicher, dieses Spiel würde dazu führen, sich untereinander noch besser wahrzunehmen und zudem hätte es auch noch einen vorzüglichen Unterhaltungswert.

Wie sich herausstellte, stimmte das auch: Jedes Mal, wenn ich einen neuen Zettel umdrehte, konnte man die gespannte Erwartung, die sich in der anbrandenden Stille breitmachte, mit Händen greifen: „Ich habe fünf Geschwister!“ Schlagartig einsetzendes Gejohle. Blitzartig schießen zahlreiche Meldungen in die Höhe. Klar, das hat sich in der Klasse längst herumgesprochen, eine einfache Frage also. Nächster Satz: „Ich lache viel.“ Auch da ahnen die meisten, welche Frohnatur gemeint sein muss, und lösen rasch das Rätsel. „Ich verliere immer meine Haargummis.“ – „Ich finde gekaufte Süßigkeiten doof.“ – „Wir haben Gänse.“ – „Ich habe Helene Fischer in echt gesehen.“ – „Ich gehe gerne in die Kirche.“ Ratespaß pur. Schwieriger für die Klasse, dafür aber auch banal: „Ich mag Ferien.“ Wer bitte mag Ferien nicht?! Noch schwieriger, diesmal aber nur für mich, wird es, als ich Sätze ziehe, bei denen ich ins Stocken gerate: „Ich bin fast schon zu unvoreingenommen.“ Oder: „Ich wäre bei meiner Geburt fast gestorben.“ Soll ich das wirklich vorlesen? In Sekundenschnelle entscheide ich mich trotz eines aufziehenden Unbehagens dafür und bin erleichtert, als ich feststelle, wie freimütig mein Schüler von den Komplikationen erzählt, die sich bei seiner Geburt zugetragen haben müssen. – „Ich bin peinlich.“ Jetzt merke ich, dass ich aufpassen muss. Das ist nichts für die Allgemeinheit. Und lustig ist es auch nicht. Auch das Bekenntnis „Ich hatte schon einen Freund“ halte ich besser unter Verschluss, erst recht aber „Ich bin ganz anders als die anderen“. Wenn ich jetzt einen Fehler mache, sitze ich in der Falle. Aber ich habe noch einmal Glück gehabt.

Es folgen noch Sätze, die ich nicht einmal hier wiederzugeben wage. Hätte ich nicht vorhersehen können, welche Schwierigkeiten in der Stunde auf mich zukommen könnten? Das ist gewiss der Fall. Aber bei der Vorbereitung auf eine Geschichts- oder Deutschstunde kann ich schon aus zeitökonomischen Gründen nicht jede erdenkliche Wendung vorwegnehmen. Dies wäre im Übrigen auch der Spontaneität abträglich, die in einem gewissen Maß für einen lebendigen Unterricht unabdingbar ist. So akzeptiere ich also, was mir meine Mentorin im Referendariat vor mehr als zwei Jahrzehnten auf den Weg gegeben hat: „An einem einzigen Vormittag treffen wir im Klassenzimmer, im Lehrerzimmer, auf dem Schulhof oder auf den Gängen dazwischen vielleicht fünfzig Entscheidungen, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Haben wir jeden einzelnen gesehen? Sind wir dabei immer allen gerecht geworden? Du musst damit leben, dass du nicht jede einzelne Entscheidung im Nachhinein noch einmal so treffen würdest.“

Ein erstaunliches Ding über mich: Die Entscheidung, Schüler über sich selbst nachdenken zu lassen, würde ich im Nachhinein durchaus noch einmal treffen. Dazu ist der Schreibauftrag zu effektvoll. Es wäre aber sicher aufrichtiger, die Schüler vor der Raterunde über das Verfahren aufzuklären, so dass sie noch die Gelegenheit bekommen, selbst zu entscheiden, welche Sätze vorgelesen werden dürfen, wenn ihr Zettel gezogen wird.
 


Blog-Eintrag Nummer 7, 21.10.2024

Neulich im Seminargebäude…
Ein Blogbeitrag der Referendarinnen und Referendare im Fach IMG (Kurs 24) und Isabell Eppinger
 


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